Geographie Macht Politik – Die geopolitische Neuordnung der Welt
Montag, 18.15 – 19.45 Uhr, Univ. St.Gallen HSG, Raum A 23-003
Geopolitik hat Hochkonjunktur. Spätestens seit China das Projekt Seidenstrasse – Belt and Road Initiative lanciert hat, und erst recht mit dem Krieg in der Ukraine ist das Ringen um eine “Neue Weltordnung“ auch in der breiten Öffentlichkeit angekommen. Die Verschiebung von Einflusssphären und Machtbereichen, das Ringen um Hegemonie, Dominanz oder Pluralismus in den globalen Strukturen kann man als Aspekte der globalen gesellschaftlichen, kulturellen und wirtschaftlichen Dynamik interpretieren, welche sich seit der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts entwickelt hat.
Die Auseinandersetzung mit dieser Dynamik, ihren verschiedenen Schauplätzen und Ausprägungen, sowie auch ihrer Resonanz in unserer alltäglichen Wahrnehmung, sind das Thema dieser Vorlesungsreihe der Ostschweizerischen Geographischen Gesellschaft im Rahmen der Öffentlichen Vorlesungen der Universität St. Gallen.
Macht Geographie Politik? Inwieweit beeinflussen territoriale/räumliche Gegebenheiten und Potenziale die politischen Prozesse und Strukturen? Und wie verändert umgekehrt die Metamorphose der Weltordnung, respektive die ihr zugrunde liegenden kulturellen, sozialen und ökonomischen Prozesse, auch die territorialen/räumlichen Strukturen?
Die verschiedenen Referate der Vorlesungsreihe beleuchten diese Fragen am Schnittpunkt von Wirtschaftsgeographie – Politik – Geschichte – Weltwirtschaft und eröffnen durch den interdisziplinären Ansatz spannende neue Blickwinkel.
2. Oktober, 18.15 – 19.45 Uhr, HSG, Raum A 023-003
Geopolitik – Von Babylon bis Jalta
Prof. em. Dr. Dr. h.c. Martin Boesch, Professor für Wirtschafts- und Sozialgeographie, Universität St.Gallen
Der Begriff “Geopolitik“ und geopolitische Bezüge haben eine bemerkenswerte Renaissance in Medien, Politik und Wissenschaft erfahren: Einmal geht es um eine “Neue Weltordnung“, um das Projekt “Seidenstrasse“, um Hegemonie und Pluralität, das andere Mal um die Verwerfungen am globalen Düngermittelmarkt. Und natürlich geht es auch um militärische Konflikte, sei es in der Ukraine, sei es um die Dominanz im südchinesischen Meer, zwischen China, Taiwan und Korea. In meinem Einführungsreferat werde ich die Entwicklung der geopolitischen Diskussionen von den Anfängen bis in die Gegenwart skizzieren, auf die wichtigsten Positionen eingehen und auch einige aktuelle Schauplätze kurz beleuchten. Dabei wird deutlich, dass die bisherige Aversion gegenüber der Geopolitik als Disziplin, als Thematik, überwunden und durch eine konstruktiv-kritische Haltung abgelöst werden muss. Die Globalisierung hat ihre Unschuld verloren und ist in die Phase der harten Auseinandersetzungen gelangt.
16. Oktober, 18.15 – 19.45 Uhr, HSG, Raum A 023-003
Geographie des Atomkriegs
Prof. Dr. Ian Klinke, Associate Professor für Humangeographie, St John’s College, Oxford
Auch wenn unsere Welt sich heute mehr über die Auswirkungen des anthropogenen Klimawandels als über einen globalen Atomkrieg sorgt, hat uns das Jahr 2022 daran erinnert, dass wir immer noch in einer Welt leben, die sich auf Knopfdruck selbst zerstören kann. In meinem Vortrag frage ich, was die politische Geographie zu einem Verständnis einer solchen Welt beitragen kann. Mein Fokus liegt auf der Infrastruktur zur Produktion, Stationierung und Lieferung von Atomwaffen sowie auf der ganz alltäglichen Art und Weise, wie Atomwaffen ihren Weg in unser Leben finden. Zentral sind die geopolitischen Gedankengebäude, mit denen Atomkrieg legitimiert wird. Ich werfe folgende Fragen auf: Wie wirken Atomwaffen geographisch und räumlich? Markiert die Atombombe eine grundlegende Veränderung in der Natur des Krieges? Und warum gibt es in atomar bewaffneten Gesellschaften solch breite Unterstützung für diese Waffensysteme?
30. Oktober, 18.15 – 19.45 Uhr, HSG, Raum A 023-003
Reproduktive Geopolitik
Prof. Dr. Carolin Schurr, Ausserordentliche Professorin für Sozial- und Kulturgeographie, Universität Bern
Wenn ukrainische Leihmütter während des russischen Angriffskrieges Kinder für russische Paare austragen, Asylsuchende Frauen aus Eritrea drei Wochen nach Geburt ihres Babys „ausgeschafft“ werden oder palästinensische Frauen das Sperma ihrer inhaftierten Männer aus dem Gefängnis schmuggeln, wird deutlich, dass geopolitische Prozesse eng mit dem intimen Leben von Menschen verwoben sind.
Eine Reproduktive Geopolitik untersucht, welche Gruppen im Namen der zukünftigen Nation zum Kinderkriegen er- oder entmutigt werden. Der Zugang zu Reproduktionstechnologien und reproduktiver Gesundheit sagt viel darüber aus, wie viel Wert einem (zukünftigen) Leben innerhalb einer Nation zugeschrieben wird. Der Vortrag diskutiert anhand verschiedener Fallbeispiele die Kontinuitäten und Brüche zwischen einer traditionellen staatlichen Biopolitik und neuen Formen reproduktiver Geopolitik.
13. November, 18.15 – 19.45 Uhr, HSG, Raum A 23-003
Wird die Arktis ein geopolitischer Brennpunkt?
Lange galt die Arktis als ein Hort des Friedens. Aber die romantische Vorstellung vom arktischen Exzeptionalismus hat schon vor dem russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine ihr Ende gefunden. Die von Russland ausgelöste Krise wird übertroffen durch die Risiken, die aus dem Klimawandel und den Spannungen zwischen den Grossmächten USA und China erwachsen. Dabei hat die Arktis eine ambivalente Relevanz, denn sie liegt gleichermassen abseits aktueller geopolitischer Brennpunkte und ist doch wichtig für China, Russland und die USA. Die drei Staaten bilden gewissermassen eine neue arktische Dreiecksbeziehung, die Ursache für einen Konflikt in der Arktis oder aus der Arktis heraus werden könnte.
27. November, 18.15 – 19.45 Uhr, Kulturmuseum, Vortragssaal
Ist die Souveränität der Ukraine aus geopolitischen Gründen eingeschränkt?
Prof. Dr. Ulrich Schmid, Professor für Kultur und Gesellschaft Russlands, Universität St.Gallen
Die Ukraine verfügt über eine junge Staatlichkeit. Nach dem Ersten Weltkrieg gab es einige kurzlebige Staatsprojekte, seit 1991 ist die Ukraine ein unabhängiger Staat. Der Kreml untergräbt seit einigen Jahren die Staatlichkeit der Ukraine. Dabei wird etwa das Framing „russische Landsleute in der Ukraine“ eingesetzt. Auch historische Ansprüche werden geltend gemacht. Ideologisch wurde der offene Angriffskrieg vorbereitet durch Putins Artikel „Über die historische Einheit der Russen und Ukrainer“ vom Juni 2021. Darin sagte er offen, dass die „wahre Souveränität der Ukraine nur in Partnerschaft mit Russland“ möglich sein. Ich werde im Vortrag geopolitische Diskussionen auf der russischen und ukrainischen Seite präsentieren. Schliesslich gehe ich auch auf Zukunftsszenarios ein.
11. Dezember, 18.15 – 19.45 Uhr, HSG, Raum A 23-003
Chinas Machthunger: Welche Zukunft hat Taiwan?
PD Dr. Simona Grano, Wissenschaftliche Mitarbeiterin Sinologie, Asien Orient Institut, Universität Zürich
Chinas zunehmend aggressives Verhalten im indo-pazifischen Raum hat eine Reihe von Ländern dazu veranlasst, ihre bisherige aussenpolitische und militärische Haltung zu ändern. In diesem Vortrag werden die sich verändernden Beziehungen Chinas zu seinen Nachbarn analysiert, insbesondere die jüngsten Verschiebungen und zunehmenden Spannungen mit der demokratischen und selbstregierten Insel Taiwan.
Leitung der Vortragsreihe ׀ Mathias Schneider, Prof. dipl. Geogr., Lehrbeauftragter OST und Mittelschullehrer KSBG, St.Gallen